Zwei Jahre vor Ende des zweiten Weltkriegs verfasste Abraham Maslow seine berühmte ‘A Theory of Human Motivation’, bis heute eine der einflussreichsten Arbeiten auf dem Gebiet der Psychologie. In deren Mittelpunkt steht die Maslowsche Bedürfnispyramide. Diese besagt, dass jeder Mensch zuerst seine Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen befriedigen möchte.
Matthew Harrison, Catherine Firth und Claudia Knod von B2B International
Erst wenn diese erfüllt sind, spielen Bedürfnisse wie Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit eine Rolle. An der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Da Unternehmen aus Menschen bestehen und diese selbstverständlich von den gleichen Bedürfnissen angetrieben werden, kann Maslows Ansatz auch auf B2B-Unternehmen übertragen werden. Der folgende Artikel basiert auf über 2.000 Studien, die die Bedürfnisse von Unternehmen untersucht haben. Er zeigt, dass es auch in B2B- Unternehmen eine Bedürfnispyramide gibt.
Figure 1: Die B2B-Bedürfnispyramide
Level 1 – Grundbedürfnisse
Die Grundbedürfnisse eines Menschen umfassen Essen, Wasser und ein Dach über dem Kopf.
Auch für ein B2B-Unternehmen müssen elementare Voraussetzungen erfüllt sein, damit es überleben kann. Dazu gehört eine solide finanzielle Basis, egal ob die Gelder aus Eigen- oder Fremdkapital stammen. Das Unternehmen muss ein Produkt oder eine Dienstleistung anbieten. Und natürlich muss es Kunden geben, die dieses Angebot wertschätzen und dafür bezahlen möchten.
Damit ein Unternehmen jedoch erfolgreich ist, sollte es immer über ein einzigartiges Angebot verfügen, das im Idealfall besser ist als die Angebote der anderen Marktteilnehmer. Jedes Unternehmen braucht eine Big Idea, auf der die Marketingstrategie aufgebaut ist. Es sollte klar herausarbeiten, worin das Angebot besteht sowie wem, wie und zu welchem Preis es angeboten werden soll. Am wichtigsten ist dabei die Frage: Grenzt sich das Angebot klar vom Mitbewerb ab?
Diese existenziellen Bedürfnisse bleiben relevant, so lange das B2B-Unternehmen besteht. Deshalb überprüfen erfolgreiche Unternehmen regelmäßig diese Grundbedürfnisse um sicherzustellen, dass die Geschäftsbasis noch stimmt.
Level 2 – Entwicklungsbedürfnisse
Sind die Grundbedürfnisse eines Menschen erst einmal befriedigt, rückt für ihn das Bedürfnis nach Sicherheit in den Vordergrund. Auf Unternehmensseite entsteht Sicherheit dadurch, dass ein Unternehmen zukunftssicher wird. Viele Unternehmen scheitern offenbar in dieser Entwicklungsphase, denn knapp 50 % der neugegründeten Unternehmen in Deutschland stellen bereits nach 4 bis 5 Jahre ihren Betrieb wieder ein (Quelle: Schneck, S.; May-Strobl, E. (2013): Wohlstandseffekte des Gründungsgeschehen, in: Institut für Mittelstandsforschung Bonn (Hrsg.): IfM-Materialien Nr. 223, Bonn).
In der Entwicklungsphase versuchen viele Unternehmen schnell zu wachsen, wodurch Marketing und Vertrieb noch wichtiger werden. Unternehmen, die bisher ihr Produkt in den Mittelpunkt gestellt haben, erkennen jetzt, dass es entscheidend ist, den Kunden ein echtes Nutzenversprechen zu kommunizieren. Unternehmen haben inzwischen so viel Know-how und Marktkenntnis aufgebaut, dass sie eine Segmentierungsstrategie entwickeln und implementieren können. Diese bildet wiederum die Grundlage für eine erfolgreiche Marketingkommunikation und Neuproduktentwicklung.
Level 3 – Soziale Bedürfnisse
Jeder Mensch hat ein starkes Bedürfnis nach erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen und Zugehörigkeit. Manchmal ist dieses Bedürfnis nach Nähe sogar so stark, dass es elementarere Bedürfnisse wie Sicherheit oder Nahrungsaufnahme unwichtig erscheinen lässt. Ein Beispiel dafür ist ein frisch verliebter Mensch, der plötzlich keinen Hunger mehr hat.
Unternehmen bestehen aus einer Vielzahl unterschiedlichster Individuen, deren Beziehungen untereinander ausschlaggebend für ein wachsendes, profitables und dauerhaftes Business sind.
Daher sollte die Mitarbeitermotivation in jedem Unternehmen ein wichtiges Thema sein. Engagierte Mitarbeiter sind eher bereit, besonderen Einsatz zu zeigen und Arbeitseinsatz über das vereinbarte Level hinaus zu leisten. Weiterbildungen, Vergünstigungen für Mitarbeiter und verbesserte Unternehmenskommunikation können somit direkt auf den Unternehmenserfolg einzahlen.
Noch wichtiger sind die Beziehungen eines Unternehmens zu Kunden und die Kundenpflege. Während die Start-up-Phase eher vertriebsdominiert ist, rückt nun auch das taktische Marketing und das Key Account Management in den Fokus. Erfolgreiche Unternehmen wissen, dass es sehr viel günstiger ist, einen Bestandskunden zu halten, als einen Neukunden zu gewinnen. Studien der B2B-Marktforschung belegen, dass die Treue und Loyalität eines Kunden zu einem Unternehmen hauptsächlich von emotionalen Faktoren und Mehrwerten bestimmt werden. Dazu gehören die Markenidentität, der überdurchschnittliche Einsatz des Unternehmens für den Kunden und das ernsthafte Interesse, das es dem Geschäftserfolg des Kunden entgegenbringt. Kunden, die bereit sind, einen Anbieter ihren Freunden und Kollegen weiterzuempfehlen, werden auch weitere Aufträge erteilen, den Umsatz mit dem Anbieter erhöhen und positive Dinge über das Unternehmen verbreiten.
Level 4 – Strukturelle Bedürfnisse
Nachdem die ersten Wachstumsphasen des Unternehmens abgeschlossen sind, muss nun begonnen werden, dem Unternehmen klarere Strukturen zu geben. Die Bildung von Teams, Abteilungen und Arbeitsgruppen – ganz gleich ob von Dauer oder projektbezogen – weckt das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Mitarbeitern und erhöht deren Verantwortungsbewusstsein. Wenn ein Unternehmen zusätzliche Hierarchieebenen einzieht wächst oft die Loyalität zum direkten Vorgesetzten und zu den Teamkollegen, oft stärker als gegenüber dem Top-Management oder dem Unternehmen selbst. Gerade diese Loyalität ist das Schlüsselelement beim Aufbau von Mitarbeitermotivation.
In dieser Phase werden auch Prozesse und Systeme etabliert, die immer mehr auf technischen Lösungen basieren. CRM-Systeme ermöglichen eine strukturierte und effiziente Kommunikation mit den Kunden. Ein Ausbau der Finanzmanagementsysteme erlaubt es, komplexere finanzielle Transaktionen durchzuführen und Compliance-Auflagen zu erfüllen.
In dieser Phase beginnen Unternehmen, mehr Manager im mittleren Management einzustellen und Abteilungen einzurichten, da immer mehr Mitarbeiter geführt und Systeme gemanagt werden müssen. Dadurch wächst gleichzeitig der Bedarf an Reporting-Strukturen.
Level 5 – Wertschätzungsbedürfnisse
Das fünfte Level in Maslows Hierarchie ist das Bedürfnis nach Anerkennung. Menschen wollen sich respektiert fühlen und haben den Wunsch nach Wertschätzung. Wesentliche Faktoren, die die eigene Wertschätzung erhöhen, sind Erfolg, Status, Verantwortung und Ansehen.
Wenn sich Unternehmen erst einmal in ihren Zielmärkten etabliert, Organisationsstrukturen entwickelt und alle notwendigen Systeme implementiert haben, wird auch für sie das Bedürfnis nach Anerkennung immer wichtiger. Sie möchten als führend in ihrer Industrie anerkannt werden. An diesem Punkt verfolgen viele Unternehmen neue und ehrgeizige Ziele. Sie diversifizieren ihr Produktsortiment oder erobern neue geografische Märkte. Sie planen beispielsweise einen bestimmten Marktanteil zu erreichen oder Marktführer in einer bestimmten Branche zu werden.
Ganz wesentlich ist es, dass zu diesem Zeitpunkt der Markenkern und die Unternehmensleitsätze noch stärker in den Vordergrund rücken. Hält die ursprüngliche „Big Idea“ des Unternehmens einer neuerlichen Prüfung stand oder muss sie sich weiterentwickeln? Wie lässt sich sicherstellen, dass durch alle Mitarbeiter, über alle Kanäle und Touchpoints hinweg eine einheitliche Kundenansprache erfolgt? Wie genau sieht das Markenversprechen des größer gewordenen Unternehmens aus und wie kann gewährleistet werden, dass das Versprechen eingehalten wird?
Der Wechsel von strukturellen zu Anerkennungsbedürfnissen erfordert, die eigene Situation zu analysieren und Visionen zu entwickeln. Die Führungsebene konzentriert sich wieder stärker auf strategische Inhalte und delegiert operative Entscheidungen. Für das Management ist es wichtiger, die Mitarbeiter zu inspirieren anstatt sie „nur“ zu führen. Und es wird deutlich, dass die Marke der wichtigste Unternehmenswert ist und die Basis für das gesamte Business bildet. Das Markenversprechen wirkt nicht nur gegenüber den Kunden, sondern wird auch für die Mitarbeiter zum Leitbild.
Level 6 – Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
Maslow hat vermutet, dass nur 2 % aller Menschen “Selbstverwirklicher” sind. Dabei handelt es sich um die Personen, deren Motivation vor allem darin besteht, sich weiterzuentwickeln und eigene Grenzen zu überwinden. Wir nehmen an, dass das Thema Selbstverwirklichung noch für weit weniger Unternehmen eine Rolle spielt – wenn man dabei von Unternehmen ausgeht, die sich über ihre originären Unternehmensziele hinaus engagieren und die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. CSR (Corporate Social Responsibility)-Aktivitäten sind typische Beispiele für die Selbstverwirklichung von Unternehmen. Oder die „Thought Leadership“, die die Tätigkeit des Unternehmens in einem weit größeren Zusammenhang darstellt.
In der Pyramide der Unternehmensbedürfnisse geht die Selbstverwirklichung über den eigentlichen Unternehmenszweck hinaus. Um glaubwürdig zu bleiben, muss sie eng mit dem Markenversprechen verbunden sein und eine Erweiterung des Markenkerns nach außen darstellen. Ein gutes Beispiel dafür ist Xylem, ein Unternehmen, das weltweit Lösungen für Wasser-Technologie liefert: Xylem setzt sich dafür ein, dass Wasser eingespart wird. Oder der erfolgreiche Software-Entwickler Salesforce.com. CEO Marc Benioff wendet das 1/1/1 Modell an: 1% des Profit, 1% des Kapitals und 1% der Zeit der Belegschaft – also 1% aller Ressourcen – werden für gemeinnützige Zwecke eingesetzt.
Auf der Ebene der Selbstverwirklichung eines Unternehmens ist die Rolle des B2B-Marketers entscheidend: Wie kann der Markenkern, die Positionierung und die höheren Unternehmensziele so in Einklang gebracht werden, dass es für Mitarbeiter und Kunden stimmig und überzeugend ist? Wie kann man sicherstellen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung nicht zu Lasten der operativen Bedürfnisse weiter unten in der B2B-Bedürfnishierarchie geht? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert ständige Aufmerksamkeit und nicht unbeträchtliche Ressourcen eines Unternehmen, das sich als echter Marktführer etablieren will.
Auswirkungen für B2B-Marketer
Wie hier dargestellt, beginnt und endet die B2B-Bedürfnispyramide mit strategischem B2B-Marketing. Kein anderer Bereich im Unternehmen ist für die einzelnen Stufen der Pyramide so entscheidend wie die des B2B-Marketings: Für ein neues Unternehmen, das sich noch ganz auf das Überleben konzentriert, ist eine effektive Marketingstrategie unerlässlich. In der Entwicklungsphase wird ein Nutzenversprechen aufgebaut und die Marketingstrategie basierend auf den bisherigen Erfahrungen im Markt weiterentwickelt. Der strategische B2B-Marketer setzt sich an die Spitze der Gewinnung von Key Accounts , treibt den Ausbau eines CRMs voran, kreiert und erweitert die Marke und setzt sie in die Realität um. Letztendlich identifiziert und etabliert er das höhere Unternehmensziel, häufig angesiedelt über dem ursprünglichen Unternehmenszweck.
In der Praxis scheitern viele Unternehmen bereits an der Umsetzung von wenigen der genannten Bedürfnisse. Mehr als die Hälfte schafft es nicht einmal über die Entwicklungsphase hinaus. Ein Grund dafür ist eine zu kurzsichtige Sichtweise innerhalb des B2B-Unternehmens. Viele Unternehmen verstehen nicht, warum sie sich weiter entwickeln sollen und warum eine kontinuierliche Investition ins Marketing notwendig ist. Noch mehr versäumen es, starke Beziehungen zu ihren Mitarbeitern und ihren Kunden aufzubauen. Andere sind zu zurückhaltend, wenn es um die Investition in neue Systeme und Infrastrukturen geht, die das Unternehmen zukunftsfähig machen. Angekommen auf dem Level der Reputation und Selbstverwirklichung gibt es so wenige erfolgreiche B2B-Unternehmen, dass jedes von ihnen wie ein winziger Diamant an einem riesigen Strand ist. Die wichtigste Botschaft an ein B2B-Unternehmen ist daher: Es ist entscheidend, dass das Marketing auf jeder Stufe der Bedürfnispyramide eine führende Rolle einnimmt. Ein Unternehmen, das die Marketing-Abteilung nicht als Motor begreift, sondern nur als Service-Abteilung ansieht, wird niemals sein volles Potenzial entfalten können.